Lisa von Ortenberg
(formerly Lisa Stocker)
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"Mui gehört einfach zu uns dazu!" 

8/30/2015

 
Erschienen in BRIGITTE Nr. 19 – 2.Sept. 2015
Mehr Info zu Mui, Tina und Rog Thomas gibts hier:
http://thegirlbehindtheface.weebly.com
https://www.facebook.com/GirlBehindTheFace

Mui (22) leidet an der Hautkrankheit Harlequin Ichthyosis. Ihre leiblichen chinesischen Eltern waren von ihrem Anblick so schockiert, dass sie sie sofort nach der Geburt verließen. Doch Mui hatte Glueck: eine Deutsche und ihr britischer Ehemann adoptierten das schwerkranke Kind Die Geschichte einer Hongkonger Familie, die nicht aufgibt.

Gegen 7.30 stieg Mui Thomas (22) in den Bus, um von der kleinen Hafenstadt Sai Kung zu ihrer Arbeitsstelle mitten in Hongkong zu fahren. Sai Kung ist beliebt bei Leuten, denen die City zu hektisch ist. Es liegt idyllisch am Meer, umgeben von einem Naturpark. Plötzlich brüllte der Fahrer etwas auf Kantonesisch, Mui verstand zuerst gar nicht, dass sie gemeint ist. Bis Mitpassagiere ihr übersetzten, der Fahrer wolle sie nicht in seinem Bus haben. Er dachte, sie habe einen Ausschlag und stinke. Dabei hatte Mui sich wie jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen eine halbe Stunde in der Badewanne abgeschrubbt. Zum Glück kamen ihr die anderen Passagiere zur Hilfe. Schließlich durfte Mui in der letzten Reihe weiterfahren, doch als sie ausstieg, spuckte ihr der Chaffeur angeekelt noch einen Schwall böser Worte hinterher.

Der Vorfall liegt schon eine Woche zurück. Mui und ihre Eltern erzählen ihn trotzdem, um zu erklären, warum sie ein Treffen bei Starbucks in Sai Kung vorziehen. Mui hat schon so viel mitgemacht. Ihre kleine Wohnung soll weiterhin ein Rückzugsort vor der Öffentlichkeit bleiben. „Dazu kommt, dass Muis Krankheit natürlich Spuren hinterlässt,“ erklärt Mutter Tina, „weil sich ihre Haut so stark schuppt, kann es nicht so sauber sein wie bei anderen Leuten. Und Mui hat auch nicht immer Lust, hinter sich herzusaugen.“ Muis Körper produziert nonstop neue Haut. Und das kostet Energie: Obwohl sie während des Gesprächs nur Tee trinkt, braucht die kleine junge Frau 8000 Kalorien am Tag. Selbst hier im Cafe wird sich nach drei Stunden ein kleiner Hautzellenhaufen unter ihrem Sitz bilden.

Muis seltene Krankheit Harlequin Ichthyosis beruht auf einem Gendefekt. Als sie im Dezember 1992 auf die Welt kam, waren ihre leiblichen Eltern so geschockt vom Anblick des Babys, dass sie es direkt nach der Geburt verließen. Die Ärzte prognostizierten, sie würde das Teenageralter nicht erreichen. Weil sich die Haut so fest und unflexibel über dem Körper spannt, würden sich einige Organe nicht richtig ausbilden. „Mittlerweile ist Mui die viertälteste Frau mit Harlequin Ichtyiosis weltweit“, sagt ihr Adoptivvater Rog stolz. Und von einigen Zwischenfällen abgesehen, führe sie ein relativ normales und ziemlich aktives Leben. Mit seinem grauen Bart sieht Rog ein bisschen aus wie ein Lateinlehrer, doch spätestens beim Anblick seiner Schuhe – ein gelber und ein grüner Croc – ahnt man, dass er Humor hat. Seine beste Waffe gegen Aufregungen. Und davon hatten Rog und Tina genug, seit sie Mui mit 18 Monaten erstmals trafen.

Nach dem Vorfall mit dem Busfahrer hat Mui in einem langen, verheulten Telefonat mit den Eltern beschlossen, dass es am besten wäre, einfach zur Arbeit zu gehen. Ihr Job bei der „Rock Foundation“ bedeutet ihr viel. So heißt die Einrichtung fuer autistische und geistig behinderte Kinder, in der sie sich in den vergangenen vier Jahren von der unbezahlten Helferin zur Lehrerin für Mathematik und „Life skills“ hochgearbeitet hat. Letzteres kann alles heißen – von Salatzubereitung bis zu grafischem Gestalten. Doch besonders stolz ist ihr Vater darauf, dass Mui in ganz Hongkong als Schiedsrichterin in der Rugby-Jugendliga pfeift. Er schiebt die Tassen zur Seite, um einige Fotos auf seinem Handy zu zeigen. „Hier, da steht Mui auf einem Podium mit den berühmtesten Rugbyspielern der Welt.“ Mui strahlt. Auf dem Platz wird sie endlich mal nicht nur als  Alien gesehen, sondern nach ihrer Arbeit beurteilt. Und wenn sie die Kaffeebestellung anfangs noch etwas nervös aufgegeben hat, ist das spätestens beim Thema Rugby vorbei. Am Abend zuvor hat sie sogar einen Pokal von ihren Kollegen bekommen. „Für meine Fähigkeit, Hürden zu überwinden,“ sagt sie mit breitem Lächeln. „Aber ohne meine Eltern haette ich es nicht so weit geschafft.“

Tina und Rog sind ein Ausnahmepaar. Von der ersten Minute an spürt man, wie glücklich sie zusammen sind. Beim Betreten des Lokals hat er sie liebevoll am Arm gestützt, weil sie momentan Knieprobleme hat und bis zu ihrer Operation in acht Monaten an Krücken laufen muss. Doch wenn man sie darauf anspricht, lächelt sie nur und murmelt etwas wie“ wird schon wieder, muss ja.“ An Tinas voller, dunkler Stimme erkennt man auch, dass sie keine zimperliche Person ist. Ihr Mann ergänzt: „Tina Thomas ist eine Frau, die zuerst an andere denkt, dann an sich.“ Sie sitzen eng nebeneinander an der Wand, und halten sich gern die Hand. Wenn man ihnen die Frage stellt, woher sie die Stärke nehmen, mit Muis Problemen umzugehen, schauen sie beide etwas verständnislos drein und antworten dann fast unisono: „Wieso? Wir hatten ja immer uns!“

Kennengelernt hatten sie sich Ende der 80er in Hongkong: Rog war aus Cardiff, Wales, nach Asien gekommen, Tina aus Neunkirchen, Deutschland. Rog war Schauspieler, und die damalige Filmszene in Hongkong bot jede Menge Jobs für den jungen Waliser mit  dem klassischen Heldengesicht. Tina war ihrer Mutter gefolgt, die sich ausgerechnet in Hongkong auf einer Geschäftsreise verliebt hatte. Ihre Kindheit und Jugend hatte Tina bei ihrer Grossmutter verbracht, was nicht immer einfach gewesen sein muss. Umso begeisterter war sie, als ihre frisch verliebte Mutter ihr nach dem Abitur anbot, zu ihr zu ziehen – endlich, zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie fand auch gleich Jobs, unter anderem als Model. Bei einem Fotoshooting lernte sie Rog kennen. Noch am gleichen Abend gingen sie zusammen aus – drei Monate nach ihrem Kennenlernen waren sie verheiratet.

Rog träumte davon, nach Australien auszuwandern. Tina war einverstanden. Sie waere mit ihm ueberall hingegangen, Hauptsache, sie wuerden eine Familie gruenden. Waehrend sie noch Geld sparten und auf ihr Visum warteten, hatte Tina die Idee, fuer eine karitative Einrichtung, Waisenkinder zu betreuen. So trafen sie 1993 Mui. Anfangs besuchten sie die Kleine nur am Wochenende. Doch das verlassene, vollkommen auf sich gestellte Mädchen in seinem Metallgitterbett ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sprechen konnte Mui noch nicht, weil sie den Mund nicht zubekam. Ihre Haut war zu hart. Spaeter sollte das Ehepaar herausfinden, dass man Muis Haut weicher machen kann, wenn man sie zweimal täglich in einstündigen Bädern von ihren Hautschuppen befreit. Und mehrmals täglich eincremt. “Wir wurden richtig innovativ,” erinnert sich Rog. Indem sie ihr einen Strohhalm zum Üben gaben, lernte Mui erst den Mund schließen und dann sprechen.

Rog konnte nur am Wochenende mitkommen, doch Tina fuhr fast jeden zweiten Tag in die Klinik. Eineinhalb Stunden dauerte die Strecke einfach. “Zum Dank” riss sich das kleine Mädchen bei Tinas Auftauchen die wenigen Haare aus, die es hatte. Es rupfte sich Hautfetzen aus dem Gesicht, bis es heftig blutete. Tina und Rog machten sich Sorgen. Sollten sie ihre Besuche überhaupt fortsetzen? “Damals wäre der letzte Zeitpunkt gewesen zu gehen,” unterbricht Rog ihre Erzählung einmal. Doch das war für die beiden keine Option. Sie begannen Muis absurdes Verhalten zu verstehen: Offenbar wollte sie ihnen damit zeigen, dass sie wütend war, weil sie von ihr weggegangen waren.

Noch Monate später zeigte Mui beide Extreme: Tobsuchtsanfälle wechselten sich mit endlosen Umarmungen ab. Doch Tina und Rog ließen sich nicht beirren. “Wir können es einfach beide nicht sehen, wenn jemand hilflos so leidet,” sagt Tina. Rog nickt. Als sie zwei war, holten sie Mui erstmals übers Wochenende zu sich nach Hause. Und als Mui mit drei Jahren in eine völlig unpassende Anstalt verlegt werden sollte, entschieden sie spontan, sie endgültig in ihre Familie aufzunehmen. Sämtliche Ärzte und Freunde rieten ihnen davon ab. Doch Mui war schon lange vorher ihr Kind geworden und Australien in weite Ferne gerückt.

Die ersten sieben Jahre konnten sie überhaupt keine Reisen planen und Tina nicht arbeiten, da jeden Moment etwas passieren konnte. Weil die Haut so oft offen war, hatte Mui Blutvergiftungen, bekam 42 Fieber oder wurde plötzlich ohnmächtig. Fast jeden Monat mussten sie den Krankenwagen rufen. Tina schlief wochenlang auf dem Boden unter Muis Klinikbett, Schlafmatten sind in den Hongkonger Krankenhäusern nicht erlaubt. Hinzu kamen immer wieder Rueckschlaege wegen Mui’s Aussehen: Bereits an ihrem ersten Schultag weigerte sich die Schulbus-Gesellschaft, das Schultuetenkind zu befördern. Die Eltern mussten extra eine Helferin einstellen, die sie jeden Morgen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schule bringt und danach wieder abholt. Und als Tina eines morgens einen Kaffee bei Starbucks trinken wollte, spuckte ihr eine ältere Dame ins Gesicht, mit der Begründung, sie habe ihr Kind verbrüht und Mui so zugerichtet.

Ob sie nach all diesen Erlebnissen nicht doch irgendwann an ihre Grenzen kamen? “Erledigt waren wir schon,” das geben  beide zu. Aber nur körperlich. Zweifel an ihrer Entscheidung hatten sie nie. Aus Mui wurde ein froehliches Kind, das an guten Tagen gern zur Schule ging und es liebte, zuhause zu helfen.


Doch alles änderte sich, als Mui ein Teenager wurde: Mit 13 saß sie eines Tages vor dem Computer und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Mui weinte, wie sie noch nie zuvor geweint hatte. Ihr Email-Account  war voller hasserfüllte Drohungen. Ein anonymer Absender riet ihr, sie solle sich umbringen. Das Selbstwertgefühl des ohnehin schon fragilen Kindes lag völlig am Boden. Mui überlegte nur noch, wann sie unbemerkt vom Balkon springen kann. Doch das Schlimmste war, dass sie damals zum ersten Mal ihre Badehygiene schleifen liess und steif und fest behauptete, sie sei jetzt normal. Sie wollte nicht mehr krank sein und auffallen, sondern verdammt nochmal in die Norm passen.

Da Cybermobbing damals noch wenig erforscht war, dauerte es endlose acht Monate, in denen sie taeglich zur Schule musste, aber niemandem mehr vertraute – bis die Polizei die Drangsalierer endlich ermittelte. Es waren vier Kinder aus ihrem Jahrgang, darunter ein Junge, den sie als Freund betrachtet hatte. Damit war ihr Interesse an der Schule endgültig gestorben. Sie lernte nichts mehr – und verpasste alle wichtigen Examen. Mit 18 ging sie ohne Abschluss ab. Gleichaltrige Freunde lässt sie seitdem nicht mehr an sich heran. Und ihre Mithilfe im Haushalt ist seither auch extrem zurückgegangen.

Im Gespräch beantwortet Mui alle Fragen sehr aufmerksam und freundlich. Insofern kann man es sich an diesem friedlichen Sonntagmorgen bei Starbucks kaum vorstellen, dass sie bis heute immer wieder Momente totaler Aggression und Null-Bock-Haltung hat. Der Anlass kann harmlos sein. Wenn sie abends nach dem Rugby-Schiedsrichter-Training nach Hause kommt und von ihrer Mutter daran erinnert wird, dass sie doch bitte noch ihr Zimmer saugen oder sich unbedingt noch baden und eincremen solle, weil ihre Haut dann am nächsten Tag nicht in ganz so großen Hautfetzen vom Leib fällt. Dann kann es passieren, dass Mui findet, sie wisse selbst, was zu tun sei. Sie allein sei verantwortlich für ihr Leben – wie damals als Kleinkind in der Klinik. Die Folge ist Geschrei, das sich über Stunden hinziehen kann.

Rog schickt in solchen Momenten Tina ins Nachbarzimmer, und hört sich Muis Tiraden geduldig an. Völlig ruhig erklärt er ihr dann noch einmal was getan werden muss und warum. Versucht herauszufinden, ob etwas war. Hat sie jemand doof angemacht? Er weiß, wie penetrant manche Leute in Muis Richtung starren. Oder dass Mütter ihren Kindern die Augen zuhalten, um ihren Kindern Muis Anblick zu ersparen. Rog, der Talker, wie Mui ihn liebevoll nennt, macht seinen Job als Heimpsychologe exzellent. Vor allem verfügt er über die bewundernswerte Fähigkeit, nicht auszuflippen. Er ist wie ein Fischer, der ihr verschiedene Köder hinwirft. Irgendwann wird sie anbeißen. Wenn sie sich beruhigt hat, kommt Tina wieder hinzu. Umarmt sie und nimmt ihr, das Versprechen ab, dass das Zimmer am nächsten Morgen noch vor der Arbeit gemacht wird. Sie lassen Mui nicht mit negativen Emotionen ins Bett. Und wenn es morgens um ein Uhr ist.

Es muss wahnsinnig ermüdend sein, ein erwachsenes Kind so engmaschig zu begleiten. Sie können ihr nicht einmal die beiden Mischlingshunde anvertrauen, die Tina auch adoptiert hat. Doch langsam wird es besser, finden die Eltern. "Ich bin einfach manchmal noch wie ein Teenager”, sagt Mui selbst. Und beide Eltern verdrehen die Augen. Mui könnte Stunden lang in ihrem Zimmer Bruno Mars hören und Computerspiele spielen. Doch Tina und Rog hören nicht auf, ihr immer wieder einen Schubs zu geben. Sie soll jetzt eigene Leute finden. Außerdem haben Tina und Rog ihre Wochenenden jetzt ganz gern auch mal wieder fuer sich.

Um Mui noch mehr zu helfen, ihr Anderssein zu akzeptieren, hat Rog, der schon lange aus Autor arbeitet und Studenten in „Creative Writing“ unterrichtet, ein Buch geschrieben: „The Girl behind the Face“ – das Mädchen hinter dem Gesicht. Es bechreibt die Geschichte ihrer Familiewerdung aus der Sicht seiner Frau, denn sie hatte sich zuerst in Mui verliebt. Dabei wird auch ausführlich erklärt, woher Tinas außerordentlicher Altruismus kommt: Aus ihrer Jugend, die alles andere als einfach war. Doch anstatt eine Therapie zu machen, beschloss sie früh, sich selbst zu berappeln, indem sie anderen hilft. Und so schwierig das fuer Außenstehende auch zu verstehen sein mag – das Ehepaar findet sein Leben heute genau richtig. Gegen Ende des Gesprächs sagt sie: „Wir haben nichts verpasst. Man kann auch ohne Australien gut leben.“ Sie machen dank Mui ja auch immer wieder tolle Erfahrungen. Selbst Kate Moss und Tony Blair haben sie schon getroffen, bei einer Gala in England. Durch Spenden finanziert wurde ein Familientrip ins Disney Land, Kalifornien. Und bis ein Verleger für das Buch gefunden ist, geben sie in Hongkong Lesungen, um vielleicht auch anderen Eltern von besonderen Kindern Mut zu machen.

Eine Woche nach dem ersten Treffen bei Starbucks sind die Drei live bei einem Lunch-Talk im Rotary Club Kowloon zu sehen. Sie lesen ein Kapitel des Buches vor vielbeschäftigten Hongkonger Unternehmern. Das große Paar Thomas rahmt die kleine Mui auf der Bühne ein – wie sie es ihr Leben lang gemacht haben. Doch wirklich überraschend ist Muis Auftritt: Sie agiert scheinbar ohne jede Nervosität und beanwortet alle Nachfragen mit ironischem Selbstbewusstsein. Vor Zuhörern ist sie ein Naturtalent. Am Ende steht eine Geschäftsfrau im dunklen Hosenanzug auf und dankt ihnen für die Lesung: „Sie sind die inspirierendste Familie, die ich in meinem Leben kennenlernen durfte,“ sagt sie. Und hat Tränen in den Augen.

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